am 29. April 2009 hatte ich für einen Menschen in Not folgenden Brief geschrieben, den ich heute noch einmal schreiben muß:

Ein kleiner Spatz im Wohnzimmer, eine Parfüm-Flasche CHANEL No. 5 und ein großer Strauß Rosen………..das sind die schönsten Erinnerungen im Leben der fast am ganzen Körper gelähmten Eva Anselm (55) aus Berlin, die unter der schrecklichen Krankheit Multiple Sklerose leidet.

Vor sieben Jahren – da konnte sie noch aus eigener Kraft aus dem Bett steigen und ein wenig über den Fußboden krabbeln – auf allen Vieren – so wie ein Baby. Die Balkontür im Wohnzimmer in ihrer kleinen Berliner Wohnung im Stadtteil Moabit ließ sie dann auf. Ganz weit – und streute Vogelfutter auf den Fußboden. Nicht auf den Boden des Balkons – nein, direkt auf den Wohnzimmer-Boden. Dann wartete sie auf das, was für sie in ihrem traurigen Leben die einzige Freude geblieben war: Hin und wieder hüpfte von der Balkonbrüstung ein grauer, kleiner Spatz in die Wohnung…….tschilpte frech „tschip, tschip“ und pickte die Körner auf.

Eva Anselm: „Dann fühlte ich mich nicht mehr wie die kranke Eva Anselm aus Berlin-Moabit, sondern wie die richtige Eva im Paradies.“

Gefangen in der eigenen Wohnung

Seit sieben Jahren ist sie ans Bett gefesselt. Das steht geschoben an der bei gutem Wetter geöffneten Balkontür – mit Blick auf eine abgeblätterte, grau-gelbe Häuserwand auf der anderen Straßenseite.
 

In der Wohnung gibt es nicht einmal ein Bad oder eine Dusche. Alles andere als „behindertengerecht“. Zweite Etage, kein Fahrstuhl, Leben wie im Gefängnis. Dort habe ich sie jetzt besucht. Wir Deutschen reden so oft von Not in der „Dritten Welt“. Not in Deutschland verschweigen wir schamhaft. Deswegen habe ich Eva Anselm in Berlin ganz bewußt besucht. Mitgebracht hatte ich einen riesigen Strauß langstieliger Rosen. Gelb und rot. Dazu ein Fläschchen Parfüm. CHANEL No. 5. Welche Frau kennt und liebt nicht dieses Edel-Parfüm? 

 

 

 

Die gelähmte Frau weinte, als sie die Rosen und das Parfüm sah

 

„Als 21jähriges Mädchen war ich noch gesund, war der Liebe meines Lebens begegnet. Verlobung. Er schenkte mir ein winziges Fläschchen CHANEL No. 5 und einen Strauß roter Rosen. Baccara. Wie könnte ich das vergessen? Es war die glücklichste Zeit meines Lebens.“

Arme und Hände kann sie noch bewegen. Mit einer Hand wischt sie sich mühsam Tränen aus den Augen. Zum Öffnen der Parfüm-Packung reicht ihre Kraft nicht mehr – und sie fragt mich: „Bitte, machen Sie die Flasche für mich auf, und sprühen Sie ein wenig davon auf mein Haar und mein Bett. Ich weiß, daß es hier nicht gut riecht.“ Frau Anselm muß täglich von einem Pfleger gewindelt werden. Wie ein Kleinkind. „Und jeden Tag schäme ich mich dafür aufs neue“…..sagt sie, wird rot dabei. Und plötzlich erfüllt der Duft von CHANEL No. 5 den Raum, legt sich auf ihre Bettdecke, ihr Haar. Die kranke Frau ist glücklich. „Rosen und CHANEL. Wie bei meiner Verlobung. Als ich noch jung und gesund war.“

Die Verlobung damals hielt nicht lange. Liebe macht blind. Der Verlobte war äußerlich ein Adonis…..aber sonst? Bandit, Schießerei. Ein Toter, Gefängnis. Nur Monate später spürte Eva erste Anzeichen der Krankheit. Schwarze Punkte vor den Augen und Kribbeln in den Füßen. Ein Arzt nach dem anderen. Schließlich die richtige Diagnose: Multiple Sklerose. Bald schleppender Gang. Eva kämpfte tapfer gegen die Krankheit, arbeitete als Bedienungs-Mädchen in einem Haus für Obdachlose. „Ich wollte denen helfen, die Hilfe brauchten, mir selbst beweisen, daß es noch geht, mein Leben einen Sinn hat.“

Die Krankheit lähmt einen Muskel nach dem anderen – am Ende die Atmung

Wir schießen Menschen mit Raketen auf den Mond und können tauchen bis an die tiefsten Stellen des Ozeans. Aber Multiple Sklerose – die können wir nicht heilen. Mehr als 125.000 Menschen in Deutschland leiden an dieser furchtbaren Krankheit.

Die Krankheit verläuft bei jedem Patienten unterschiedlich. Bei einigen „gnädig“, bei anderen sehr aggressiv. Wir helfen Eva Anselm seit fast vier Jahren – und konnten so ihr Leben erträglicher machen. Mit bestimmten Lebensmitteln kann die Krankheit verzögert – einige Jahre Leben geschenkt werden. Einige Jahre erträgliches Leben schenken – mehr können wir nicht tun für Eva Anselm. Aber das ist schon eine ganze Menge. Die speziellen Lebensmittel kosten pro Monat rund 300 Euro. Eva Anselm hat nicht einmal 600 Euro Rente im Monat. Und das geht schon voll drauf für die Pflege.

Wenn Sie der kranken Frau ein wenig helfen könnten – ich wäre Ihnen dankbar.


Viele liebe Grüße

Ihr
Joachim Siegerist