Danke Deutschland
Ohne Hilfe wäre ich verloren gewesen

(von Malina Andronescu)


Das blonde, hübsche Mädchen lacht fröhlich und streckt die Arme der warmen Sommersonne entgegen. Sie erzählt von ihrem Studium, ihrem Freund und ihren Zukunftsplänen – wie es von einem Mädchen in ihrem Alter zu erwarten ist. Dabei ist das im Falle von Anita Zimante gar nicht selbstverständlich. Denn ihr Leben hatte unter einem ungünstigen Zeichen begonnen.

Anita Zimante ist vor 22 Jahren in Riga/Lettland zur Welt gekommen – mit einer angeborenen Mißbildung: fehlende Unterschenkel, Fehlstellung der Füße. Fubulaaplasie nennt man das in der Medizinersprache. Ihre Mutter will nichts von ihr wissen, bringt sie in ein Kinderheim. Es ist dies kein Einzelschicksal damals in kommunistischen Ländern, wo viele Mütter nicht die Kraft oder die Möglichkeit haben, sich um kranke Kinder zu kümmern, da das Leben eh schon schwierig genug ist. Anita bleibt zwei Jahre lang im Heim. Dort findet sie Joachim Siegerist, der lettische Kinderheime besucht. Er ist von dem kleinen Mädchen zutiefst beeindruckt: sie kann nicht gehen, kauert oder kriecht nur auf dem Boden. Die Pflegerinnen kümmern sich zwar um sie, können ihr aber weder die Zuneigung anbieten, die sie braucht, noch ärztliche Versorgung.

Siegerist handelt kurz entschlossen: eine Spendensammelaktion wird gestartet, Flug und Krankenhausaufenthalt organisiert. Anita kommt in die Kinderklinik in Sankt Augustin bei Bonn und wird von Dr. Martin Mann, dem Leiter der Orthopädieabteilung, operiert. Es ist eine lange, schwere Operation: an den Beinen des kleinen Mädchens werden Prothesen – sogenannte „Orthesen“ – angebracht. Dann gilt es, zu warten – Wochen, sogar Monate, bis die erste Besserung eintritt. Aber: der Aufenthalt im Krankenhaus ist teuer, kostet 700 DM am Tag – alles aus den Spendengeldern bezahlt. Auch Herr Dr. Mann zögert nicht lange: er nimmt die kleine Anita zu sich nach Hause, zu seiner Frau und den drei Kindern. 

 

„Wir wollten das Kind nicht einfach im Krankenhaus liegen lassen, wo jeder Aufenthaltstag so teuer war. Es ging letztendlich darum, verantwortungsvoll mit den Spendengeldern umzugehen“, erzählt Dr. Mann. Seine Ehefrau kümmert sich sorgenvoll um das Kind. Es ist nicht leicht, denn Anita kann immer noch nicht richtig laufen, und die Schmerzen sind groß.

Dann geht es irgendwann zurück nach Lettland, erst einmal wieder ins Heim. Dann passiert das zweite Wunder: Anitas Großmutter, Vallija, die nichts von ihr gewußt hatte, liest zufällig einen Zeitungsbericht über den Fall und erkennt ihre Enkelin wieder. Sie holt Anita zu sich, gibt ihren Job als Apothekerin auf, um sich um das Kind kümmern zu können.

Anita kommt immer wieder nach Deutschland, denn mit jedem Jahr in dem sie wächst, müssen die Orthesen neu angepasst werden. Und immer wieder wird sie von der Familie Mann liebevoll aufgenommen und versorgt. Die drei Kinder der Familie sind zwar viel älter– als Anita zum ersten Mal nach Deutschland kam, waren sie 12, 18 und 20 Jahre alt -, trotzdem wird sie wie eine Schwester aufgenommen. „In der Nachbarschaft habe ich aber auch gleichaltrige Kinder gefunden, mit denen ich gespielt habe, oder wir sind mit dem Bobby-Car gefahren“, erinnert sich Anita. „In der Straße war sie bekannt wie ein bunter Hund. Eine Nachbarin hat eines Tages fast einen Herzinfarkt bekommen, als sie gesehen hat, daß Anita auf einen Baumstamm geklettert war“, erzählt Frau Mann.  


Trotz alledem: eine „unbeschwerte Kindheit“ ist das nicht. Die Orthesen müssen immer wieder angepasst werden, die Schmerzen kehren immer wieder zurück. „Wenn wir Anita Schuhe kaufen wollten, gab es manchmal Probleme. Sie konnte nicht, wie andere Mädchen, glitzernde Prinzessinenschuhe bekommen – da flossen schon manchmal Tränen“, erinnert sich Frau Mann.

2002, als Anita 12 Jahre alt ist, erfolgt dann die zweite Operation, diesmal in Kiel. Zu dem Ärzteteam gehört diesmal Dr. Mann , der Sohn der Familie. Anita kämpft weiter. Obwohl sie ein Schuljahr verloren hat, holt sie in Lettland ihre Prüfungen schnell nach. In der Schule hat sie nie Probleme. Nach dem Abschluss des Gymnasiums überlegt sie sich sogar, Medizin zu studieren. Doch letztendlich entscheidet sie sich für einen Studiengang im Personalmanagement an einem Kolleg in der lettischen Hauptstadt.  

 

 

Im Laufe der Jahre hat sich zwischen Anita und der Familie Mann eine innige  

Beziehung entwickelt. „ Sie sind in einer gewissen Weise so wie eine Art Eltern für mich. Als Kleinkind habe ich sie als Eltern wahrgenommen, später habe ich dann die Wirklichkeit erfahren, aber man fühlt sich ihnen schon wie Eltern verbunden“, sagt Anita. „Irgendwann kam auch die Frage einer Adoption auf“, erzählt Frau Mann. „Ich habe mich aber letztendlich dagegen entschieden, weil ich dachte, diese Entscheidung trifft nicht nur mich, sondern auch meine eigenen Kinder, die dann eine Verantwortung übernehmen müssen. Wir wollten meine Entscheidung nicht meinen Kindern aufdrücken. Klar, Anita ist uns ans Herz gewachsen. Aber jeder wird irgendwann ein eigener Mensch, mit einer eigenen Persönlichkeit, das ist auch bei den eigenen Kindern so. Und das muß man akzeptieren. Ich finde es aber sehr schön, daß sie sich so entwickelt hat, und daß unsere Beziehung sich so entwickelt hat, daß sie heute noch funktioniert. Sie hätte ja auch sagen können: „Danke schön, das war’s und tschüss!“  

 

 

Jetzt, nach dem Abschluss ihres Studiums, ist Anita jedoch wieder nach Deutschland gekommen. Bei unserem Gespräch im Haus der Familie Mann, bei Bonn, erzählt uns Anita von ihren Hobbys und Zukunftsträumen. Aus dem kränklichen Kind von früher ist eine hübsche, resolute junge Frau geworden. „Die Anita, die hat ihren eigenen Kopf. Das merkt man schon. Aber eben, weil sie so einen ,Dickkopf’ hat, hat sie es auch geschafft“, meint Dr. Mann. Die Orthesen sind längst weg. Zwar wird Anita nie hochhackige Schuhe tragen können, aber von ihrer Gehbehinderung kann man ihr heute kaum noch etwas anmerken.

Sie hat sogar ihren Führerschein gemacht, kann ein normales Auto mit Automatikgetriebe fahren. „Leider habe ich noch keinen PKW, aber ich würde wahnsinnig gerne Auto fahren“, sagt sie.  Anita ist fest entschlossen, eine Arbeit zu finden und in Deutschland zu bleiben. Deshalb bemüht sie sich auch intensiv um eine Stelle. „Mir ist schon klar, daß ein guter Arbeitsplatz einem nicht einfach in die Arme fällt. Aber ich bin immer unter Deutschen gewesen, ich kenne ihre Einstellung, ihren Charakter. Ich habe auch viele Bekannte hier…“ Und einen Freund, Paul. Er war es, der sie jetzt aus Lettland abgeholt hat. „Er ist nach Lettland gekommen, hat einige Tage Urlaub gemacht, und dann sind wir zusammen hierhergekommen. Ich bin ihm sehr dankbar dafür“, schwärmt die junge Frau.

Anita ist sich bewußt, daß sie in ihrem Leben trotz der ungünstigen Anfangsvoraussetzungen auch viel Glück gehabt hat. „Natürlich war es ein großes Glück, wie das alles gekommen ist, und daß ich von so vielen guten Menschen umgeben war. Ohne Menschen wie meine Oma, die Familie Mann, Herrn Siegerist oder Paul, würde ich wahrscheinlich immer noch irgendwo im Staub kriechen im Kinderheim.“ Von diesen Menschen hat Anita gelernt, wie wichtig es ist, anderen zu helfen. „Je älter man wird, desto leichter und offener wird dein Herz, anderen Menschen zu helfen, und das Beste zu tun für jemanden, der schwächer ist als du selbst“, sagt Anita. Deswegen will sie mit dem Geld, das sie verdient, auch ihrer in Lettland zurückgebliebenen Oma helfen: „Oma Vallija ist jetzt 87 Jahre alt. Ich würde ihr gerne das Leben erleichtern – auch materiell. Sie fehlt mir sehr, und ich erinnere mich immer an das, was sie mich immer gelehrt hat: Wenn du deine Vergangenheit vergißt, dann hast du keine Zukunft!“